"Die Jugend hat Sehnsucht nach Autorität" von Dr. Bernhard Bueb
Bernhard Bueb, langjähriger Leiter des Eliteinternats Salem, über Disziplin, Schuluniformen, das Leiden der Lehrer und den Charme der Ganztagsschule.
Die Welt: Warum ist das Ansehen der Lehrer so gesunken?
Bernhard Bueb: Es war nie sonderlich hoch. Unser Schulgründer Kurt Hahn pflegte schon in den zwanziger Jahren Lehrer als die "schlechtangezogenen Wissensvermittler" zu bezeichnen. Machen Sie sich die Mühe, in den "Buddenbrooks" die sicherlich übertriebene Lehrerschelte nachzulesen. Die Schulreformer am Anfang des 20. Jahrhunderts kritisierten Lehrer, weil sie sich zuwenig als Erzieher verstanden. Das gilt bis heute.
Welt: Früher sorgte die Familie für Bildung und Erziehung. Das schafft sie heute oft nicht mehr . . .
Bueb: Der Staat ist der schlechteste Anwalt der Erziehung, wird aber leider der einzige sein, denn das Privatschulwesen wird in Deutschland nicht weiter Fuß fassen. Das ist bedauerlich. Sechs Prozent der Schüler besuchen Privatschulen. Der Prozentsatz ließe sich vielleicht auf zehn Prozent steigern. Aber nach wie vor glauben die Deutschen, dass Bildung und Erziehung eine soziale Leistung des Staates sei und man nicht erwarten könne, dafür privat wirtschaftlich zu investieren. In Zukunft wird sich diese Haltung ändern, es dauert aber zu lang. Lehrer an staatlichen Schulen müssen daher zu Agenten der Erziehung werden, besonders von Kindern der zunehmenden Zahl von Alleinerziehenden oder aus bildungsfernen Familien. Der Staat würde hierfür sein Geld gut anlegen, und jeder würde dem zustimmen. Man könnte innerhalb kurzer Zeit in diesem reichen Land Schulen in Ganztagsschulen verwandeln. Es gibt erstaunlich gute Beispiele staatlicher Ganztagsschulen.
Welt: Privatschulen gelten der Elitebildung. Sie als langjähriger Leiter des Eliteinternats Salem sehen einen Sinnzusammenhang zwischen Internat und Ganztagsschule?
Bueb: Ja. Internate könnten Pate stehen. Im Grunde passiert in den Internaten die Hauptsache am Nachmittag. Wichtig finde ich ein gemeinsames Mittagessen, um die Ernährungsgewohnheiten der Kinder zu verändern, ihnen Manieren beizubringen und Begegnungen mit Lehrern außerhalb des Unterrichts zu ermöglichen. Dann sollte man alle Kinder in Schulanzüge stecken. Wenn die Schüler nach Hause gehen, um 16 oder 17 Uhr, sollten die Hausaufgaben erledigt sein, der Schultag sollte beendet sein, damit Kind und Eltern Zeit füreinander haben. Heute kommen die Kinder zu früh nach Hause, was den berufstätigen Müttern viel Leid, Belastung und Ärger beschert. In Salem muss jeder Schüler ab der 10. Klasse einmal die Woche im Dienst anderer Menschen verbringen, also alte Menschen, Behinderte oder Grundschulkinder betreuen. Das würde ich in jedem deutschen Gymnasium ab diesem Alter einführen.
Welt: Wir kommen aus einem Jahrhundert der Extreme. Wir hatten den Kadavergehorsam und dann den Gegenreflex der 68er. Wissen wir mittlerweile, welches Maß in der Erziehung das richtige ist?
Bueb: Wir müssen Dinge betonen, die man früher nicht betonte: Disziplin, Autorität. Ich sehe eine verbreitete Nichterziehung in den Elternhäusern. Wenn man das Wort Disziplin ausspricht, schauen alle ganz erstaunt. Weil immer noch die Vorstellung herrscht, man dürfe Kindern keinen Zwang antun.
Welt: Erziehung führt, greift ein, sagen Sie. Was sind die Mittel bei Jugendlichen mit deren altersbedingter Renitenz?
Bueb: Wir müssen die Sehnsucht der Jugend nach Autorität befriedigen. Es gibt die Autorität des Bildhauers und die des Gärtners. Der eine führt, der andere lässt wachsen. Heute brauchen wir mehr Bildhauer: prägend, eingreifend, fordernd, mehr erwartend von den Kindern, das ist auch eine Form der Zuwendung. Authentische, begründete Autorität ist nicht von jedem Lehrer zu erwarten. 50 Prozent sind mittelmäßig, das ist in jedem Beruf so. Aber auch der mittelmäßige Lehrer muss als Lehrer respektiert werden. Die "Amtsautorität" der Lehrer muss gestärkt werden. Unser Verhältnis zu Autorität ist immer noch gebrochen, besonders in der Pädagogik.
Welt: Resignieren daher so viele Lehrer?
Bueb: Sie leiden unter der Disziplin- und Respektlosigkeit der Kinder. Das zermürbt. Der Schulleiter muss dafür sorgen, dass Ordnung herrscht. Regeln, Verbote, Strafen müssen wieder positiv verankert sein, wie generell ein positives Verhältnis zur Macht entstehen sollte. Der Unterschied zwischen Jugendlichen und Erwachsenen ist ein Machtunterschied und nicht ein Erfahrungsvorsprung, wie die pädagogischen Romantiker nach 68 euphemistisch das Machtgefälle zwischen Erwachsenen und Kindern verniedlichten.
Welt: In Zeiten des Überflusses und Wohlstandes ist es schwer, Askese und Anstrengung zu fordern ...
Bueb: Wir müssen Grenzen ziehen und Verzicht einüben. Ich würde das gesetzliche Alter fürs Rauchen und Trinken hoch setzen und wie in Amerika die Verkäufer bestrafen, wenn sie die Gesetze brechen. In Salem nehmen wir jeden Morgen nach Losverfahren Urinproben, wer positiv ist, etwa kifft, fliegt von der Schule. Der Erfolg bestätigt seit zehn Jahren unsere Maßnahme. Der Königsweg, das Glück der Anstrengung erfahren zu dürfen, ist das gemeinsame Spiel in der Gemeinschaft. Sport, Musik und Theater sollten verpflichtend am Nachmittag in allen Schulen stattfinden. In diesen Tätigkeiten erleben Jugendliche beglückend den Wert und die Notwendigkeit von Disziplin, Anstrengung und Verzicht.
Welt: Warum sind Sie so vehement für die Ganztagsschule?
Bueb: Wir müssen dem Erziehungsdefizit in den Familien und bei dem Heer der Alleinerziehenden etwas entgegensetzen. Die Lehrer müssen die Erzieher der Nation werden. Das können sie nur, wenn sie Kindern und Jugendlichen auch außerhalb des Unterrichts begegnen. Lehrer und Schüler gehören den ganzen Tag an die Schule, wie es in 90 Prozent aller Kulturnationen selbstverständlich und seit langem der Fall ist.
Bernhard Bueb ist Vorsitzender des Kuratoriums der Schule Schloß Salem. 2006 erschien von ihm das Buch "Lob der Disziplin" (List-Verlag, Berlin). Mit ihm sprach Andrea Seibel
Der Artikel erschien am Do, 6. April 2006 in "Die Welt"