Die Welt ist bizarr!! von Thomas Vacek aus "Die Zeit"
Der multiple Physiker David Deutsch lebt in Paralleluniversen und arbeitet nur nachts. Ein Besuch in Oxford. An einem lauen britischen Frühlingsnachmittag in diesem Universum nippt ein Mann an einem Glas Orangensaft. Plötzlich platzt der Boden aus dem Glas, und der Saft platscht auf den Teppich. Verdutzt betrachtet der Physiker David Deutsch den leeren Glaszylinder, während der dickflüssige Saft versickert. "Interesting physics", murmelt er nur.
Nicht jedem fällt der Saft so einfach aus dem Glas. In einem anderen Universum würde eine Kopie von David Deutsch vielleicht ein Glas ohne Sprung benutzen, Kaffee statt Orangensaft trinken oder ganz etwas anderes tun. Denn unsere Realität ist nach Deutschs Überzeugung nur eine von Myriaden paralleler Welten. In einigen sind wir längst tot, in anderen werden wir nie geboren, und gewiss gibt es einen Kosmos, in dem dank merkwürdiger Zufälle der Evolution Dinosaurier Städte bauen.
Was nach Science-Fiction klingt, ist für den Oxforder Quantenphysiker eine unausweichliche Konsequenz aus den Naturgesetzen. Mehr noch: David Deutsch zufolge können wir die Realität gar nicht richtig verstehen, wenn wir die Existenz des "Multiversums" nicht akzeptieren.
Auch er selbst lebt in einer Art Parallelwelt. Deutsch, der unter Physikern einen schon fast legendären Ruf genießt, arbeitet nicht etwa an einem Universitätsinstitut, sondern in einem kleinen Eckhaus am Rande von Oxford. Im Vorgarten, verdüstert von einem morschen Baum, wuchert Unkraut, vor der Eingangstür liegen vom Regen aufgeweichte Werbeprospekte. Häufchen aus Büchern, Zeitschriften und Notizzetteln bahnen den Weg ins Arbeitszimmer. Auf einer Tafel stehen Gleichungen, auf einer meterlangen Schreibtischplatte drei Computer. Über einem hängt ein Einstein-Poster der Firma Apple: "Think different".
Mitten in diesem Chaos denkt David Deutsch nach über die tiefen Verbindungen von Wissen und Wirklichkeit, Information und Physik. Der 48-jährige Spross einer österreichisch-jüdischen Familie, der in Israel geboren wurde und im Alter von drei Jahren nach England kam, wollte schon als Kind Physiker werden. Als 13-Jähriger bastelte er sich eine elektronische Addiermaschine, als Student war er "Taschenrechner-Aficionado", und mit 32 Jahren beschrieb er in einer bahnbrechenden Arbeit die Quantenverallgemeinerung der sogenannten universellen Turing-Maschine. Damit lieferte er die zentrale Idee für den Quantencomputer, eine visionäre Rechenmaschine, die eines Tages bestimmte Berechnungen schneller durchführen können soll als alle heutigen Computer zusammen. Seine Forschungen legten den Grundstein für die Quanteninformatik, eine Theorie, die manche für den Schlüssel zu einem fundamental neuen Realitätsverständnis halten.
Anfangs habe man Deutschs Arbeiten eher als "Skurrilitäten" betrachtet, sagt der Innsbrucker Quantenphysiker Peter Zoller: "Aus heutiger Sicht zeigt sich, dass er seiner Zeit um Jahre voraus war." 1998 erhielt Deutsch für seine "Pionierarbeit auf dem Gebiet der Quantenberechnung" den angesehenen Paul-Dirac-Preis für Theoretische Physik. Solche wissenschaftlichen Leistungen machen Deutsch in gewissem Sinne unantastbar und gestatten ihm ein Eigenleben, das bei anderen, vorsichtig ausgedrückt, skurril erschiene.
Es ist drei Uhr nachmittags, Deutsch ist eben erst aufgestanden. Wüst fallen ihm Haarsträhnen in die Stirn, hinter Brillengläsern rollen hellblaue Augen freundlich hin und her. Der zerbrechlich wirkende Mann ist von geisterhafter Blässe, denn er denkt ausschließlich nachts, tagsüber schläft er. Sein Haus verlässt er nur, wenn ihn die Gesetze des Alltags dazu zwingen. "Manchmal kommt mir die Wirklichkeit dazwischen", sagt Deutsch lachend. Sein Universum ist die merkwürdige Quantenwelt. Dort lassen sich alle Objekte (zum Beispiel Elektronen) als feste Partikel beschreiben - und zugleich als Wellen, die sich gegenseitig überlagern oder auslöschen, sprich: miteinander interferieren. Jedes Elektron befindet sich in mehreren Zuständen zugleich. Erst bei einer Messung zwingt man es gleichsam, sich für einen der möglichen Zustände zu entscheiden. Die Frage ist nur: Was um alles in der Welt passiert da genau?
Nach der Standardinterpretation der Quantenmechanik, der so genannten Kopenhagener Deutung, ist diese Frage unsinnig. Denn die mikrophysikalische Realität könne man prinzipiell nicht kennen. Das sei auch nicht nötig - schließlich liefere der mathematische Formelapparat stets korrekte Vorhersagen. Doch diese Deutung war Deutsch schon als Student suspekt: Eine Theorie müsse auch Erklärungen liefern, meint er.
Er favorisiert daher die "Viele-Welten-Interpretation", die der US-Physiker Hugh Everett im Jahr 1957 formulierte: Ihr zufolge verwirklicht das Elektron alle möglichen denkbaren Zustände - jedoch in verschiedenen Universen. Bei einer Messung komme es zu einer Aufspaltung des Universums in neue Universen.
Das klingt zunächst verrückt, doch es zeigt sich, dass die Viele-Welten-Theorie, genauso wie die Kopenhagener Deutung, mit der experimentellen Beobachtung übereinstimmt. Rein logisch gibt es also keinen Grund, die Viele-Welten-Theorie abzulehnen. Dennoch steht ihr die Mehrheit der Physiker skeptisch gegenüber. Die Interpretation der Quantenmechanik sei eben "Meinungssache" und für die Anwendungen der Theorie "nicht wirklich relevant", sagt Ignacio Cirac, Leiter des Max-Planck-Instituts für Quantenoptik.
David Deutsch hingegen hält es schlicht für einen Skandal, dass die Viele-Welten-Theorie bis heute eine Außenseiterposition einnimmt. Die Physiker-Gemeinde habe einen "kolossalen Fehler" begangen, sagt er mit einem Anflug von Unduldsamkeit. Schon Ende der siebziger Jahre ersann er ein Experiment, mit der sich die Idee der vielen Welten zumindest theoretisch testen ließe: das entsprechende Gerät, wenn es denn gebaut würde, wäre der Prototyp eines Quantencomputers.
Von der technischen Realisierung eines solchen Superrechners ist man zwar noch weit entfernt. Doch einem Forscherteam von IBM gelang es kürzlich immerhin, mit einem simplen Quantensystem die Zahl 15 in ihre Primfaktoren zu zerlegen und damit die bislang komplexeste Berechnung auf Quantenbasis durchzuführen. Als das Gespräch auf diese Pioniertat kommt, gibt Deutsch sich erstaunt: "Tatsächlich?", fragt er und fügt hinzu, die Fortschritte auf dem Weg zum Bau eines Quantenrechners verfolge er nur als "interessierter Laie".
Am Ende ist alles berechenbar.
Ihm geht es um fundamentalere Fragen: Welche Art von Berechnungen erlaubt die Natur? Lassen sich alle physikalischen Systeme durch Computer simulieren? Berechnung galt lange Zeit als rein abstrakter Vorgang, der nur durch mathematische Regeln beschrieben wird. Doch Deutsch sieht das anders: Wenn etwas prinzipiell berechenbar sei, so müsse es durch ein physikalisches System berechnet werden können. Und das hat Konsequenzen. Denn konventionelle Computer funktionieren nach den Prinzipien der klassischen Physik. Doch die klassische Physik, darauf legt Deutsch Wert, ist falsch.
Die Wirklichkeit folgt den bizarren Gesetzen der Quantenmechanik. Und wenn sich Elektronen auf verschiedenen Bahnen zugleich bewegen, warum soll dann nicht auch ein Computer auf verschiedenen Wegen gleichzeitig rechnen können? In einem konventionellen digitalen Computer ist ein Bit, die kleinste Informationseinheit, physikalisch betrachtet ein System aus zwei Zuständen - nein oder ja, 0 oder 1, Strom oder kein Strom. Nach der Quantenmechanik kann sich ein Teilchen in einer so genannten "Überlagerung" oder "Superposition" verschiedener Zustände befinden. Ein "Quanten-Bit" oder "Qubit", zum Beispiel dargestellt durch ein Atom, kann in einem Überlagerungszustand deshalb die Werte 0 und 1 zugleich repräsentieren.
Mit jedem Qubit steigt die Zahl dieser Werte exponentiell an. Mit drei Qubits könnte man bereits acht Werte simultan darstellen und mit 250 Qubits bereits mehr Zahlen, als es Atome im Universum gibt. Zugleich erlaubt die Quantenmechanik, mit all diesen Werten gleichzeitig zu rechnen. Ein Quantencomputer könnte deshalb auch bestimmte Aufgaben lösen, bei denen die Rechenzeit mit der Größe der Berechnung exponentiell anwächst und die für einen konventionellen Computer "undurchführbar" sind. Aber wie kann ein physikalisches System mehr Rechenschritte durchführen, als es Atome im Weltall gibt? Für Deutsch ist die Antwort völlig klar: Der Quantencomputer benützt für seine immensen Berechnungen mehrere Universen zugleich. Erstaunlich genug.
Auf die Frage, ob die Theorie des "Multiversums" nicht dem gesunden Menschenverstand zuwiderlaufe, schüttelt Deutsch heftig den Kopf und deutet auf das Einstein-Poster in seinem Zimmer. In der Relativitätstheorie gebe es "viel schlimmere Dinge" - Schwarze Löcher, gekrümmte Raumzeit und ähnlich sonderbare Phänomene. Trotzdem hätten die Physiker die Relativitätstheorie akzeptiert. Auch der Quantencomputer ist für ihn eine Manifestation der Naturgesetze. In seinem 1996 erschienenen Buch The fabric of reality (auf Deutsch: Physik der Welterkenntnis bei DTV) entwirft Deutsch ein neues Weltbild, das die Quantenphysik und die Theorie der Berechnung mit der Evolution und Erkenntnistheorie verbindet.
Dass er unter den Physikern eine Sonderrolle einnimmt, stört ihn nicht. In ein System gepasst habe er eben noch nie: "Ich tue einfach, was mir gefällt." Fachartikel zu schreiben habe ihn "immer schon gelangweilt." Konferenzen besucht er nur selten. Einmal machte er seine Teilnahme davon abhängig, zu jeder Tages- und Nachtzeit Tee und warmes Essen zu bekommen. Bei einem Meeting im vergangenen Sommer ließ er sich lieber gleich aus dem Oxforder Physik-Department per Satellit zuschalten. Isoliert ist Deutsch freilich keineswegs. Via E-Mail kommuniziert er mit Forschern in aller Welt, und demnächst wird man ihm zu Hause die Software für Telekonferenzen installieren.
Am Ende des Gesprächs begleitet Deutsch den Besucher noch ein paar Meter zur nächsten Straßenecke. Unsicher blinzeln seine Augen in die Abendsonne. Da fallen ihm die Oxforder Kommunalwahlen ein. Ob er dafür aus dem Haus gehen soll? Schwierige Frage.
Nach ein paar Schritten bleibt Deutsch stehen, als wäre er schon viel zu weit gegangen. Genug der Wirklichkeit. "Nice to meet you." Mit gebeugtem Kopf schlappt der Physiker zurück zu dem Eckhaus mit der Steinmauer und dem überwachsenen Garten. Auch im "Multiversum" lebt man schließlich nur einmal. Und in diesem, in unserem Universum hat sein Arbeitstag gerade erst begonnen.