Was ist Schönheit?von Sigrid Beckmann-Lamb
Immer wenn wir Schönheit sehen, bleiben wir angerührt stehen. Wir sind je nach Ausmaß des Schönen nicht nur beeindruckt, sondern geradezu überwältigt. Schönheit trifft uns mitten ins Herz, wir fühlen uns erhoben und tief in der Seele berührt. Was löst diese Reaktion aus? Ist es die Ebenmäßigkeit, die Symmetrie des Geschauten? Ist es die rechte Mischung von geschwungenen und geraden Linien, von Fülle und Nüchternheit, ist es die Harmonie der vollendet verwobenen Gegensätze? Zur Schönheit gehört die Pracht, das Edle, Elegante, das Feine. Ein symmetrisch gebauter zehnstöckiger Kasten wird nicht als schön empfunden, weil er eben nur zweckmäßig ist. Es fehlt der Gegenpol: die Fülle, die Bögen, der Schmuck und der Glanz. All das, was über das rein Zweckmäßige, Praktische hinausgeht. All das, was eigentlich "nur etwas fürs Auge ist". Wobei das Wort "nur" falsch ist, es muss "extra" heißen. Extra fürs Auge geschaffen, denn die Augen versinnbildlichen die Fenster der Seele, und diese lebt bekanntlich von dem, was das Auge erfreut. Es ist in der Tat die gekonnte Verbindung vieler Gegensätze, die jenen Gleichklang, jenes Wohlbefinden in uns auslöst, das wir beim Anblick von Schönem empfinden. Schönheit ist immer Harmonie; selbst Stilbrüche können eine überwältigende Schönheit ergeben, wenn sie in richtiger Weise zusammengefügt werden. Synthese - das, was alle Gegensätze gemeinsam aufweisen oder auch das kleinste gemeinsame Vielfache - die Harmonie der Originale - das ist es, was wir als schön empfinden.
Innere Schönheit hingegen ist weitgehend unabhängig von ebenmäßigen Gesichtszügen, einer ansehnlichen Gestalt und guter Kleidung. Ein in Lumpen gehüllter Mensch mit klaren, gütigen Augen und tiefer Anteilnahme am Leid anderer kann große Schönheit ausstrahlen. Ich denke an Mutter Theresa, an Pater Pio und unzählige Menschen in Elendsvierteln, die von dem Wenigen, das sie hatten, den noch Ärmeren abgaben. Innere Schönheit hat immer auch mit Würde zu tun - Würde, die entsteht, wenn sich Mitgefühl, Barmherzigkeit, Verständnis und erlösende Tat vereinen. Wenn sich der Mensch human verhält, wird er früher oder später als schön empfunden; jede äußere Unansehnlichkeit wird zunehmend übersehen. Diese Art von Schönheit hat mit Größe zu tun, mit innerem Adel. Wer mitleidet am Leid des anderen - still und ohne Pathos, ohne Wichtigtuerei - wer nicht nur Anteil nimmt, sondern auch etwas tun will, wer sich Gedanken macht, was er ändern könnte, wo und wie er helfen könnte - ein solcher Mensch wird schön. Sein innerer Reichtum tritt nach außen und spiegelt sich in seinem Gesicht, seiner Mimik und Gestik.
Es gibt auch Menschen, die über beides verfügen - über innere und äußere Schönheit. Diese werden uns oft zum Vorbild. Sie spornen an und rufen das Gute in uns wach. Sie machen uns für die Dauer der Begegnung - und wenn es nur ein Foto von ihnen ist, das wir betrachten - zu einem besseren Menschen. Schönheit in diesem Sinne ist Göttlichkeit. Deshalb fühlen sich Menschen von wirklich Schönem, zeitlos Schönem, angezogen. Echte Schönheit hat auch etwas Erhabenes an sich und es erhebt in der Tat. Es hebt uns für die Dauer des Betrachtens über das Alltägliche, das Nichtige hinaus und erinnert daran, was ewig ist, was wirklich zählt im Leben. Aus diesem Grund ist das Schaffen und Erhalten von Schönem so wichtig.
Schönheit von Teofila Reich-Ranicki
Zu den wenigen Überlebenden des Warschauer Ghettos gehören Teofila und Marcel Reich-Ranicki. Über 400.000 Menschen waren hier seit November 1940 auf engstem Raum zusammengetrieben worden. Vom Rest der Stadt strikt getrennt, starben im sogenannten "jüdischen Wohnbezirk" jeden Monat Tausende durch Hunger, den Terror der deutschen Besatzung und aufgrund der unzumutbaren hygienischen Verhältnisse.
Teofila Reich-Ranicki hat noch im Ghetto mit einer Serie grafischer Blätter begonnen, die den alltäglichen Schrecken darstellen: Hunger, Terror, Kampf um das Überleben, Deportation.
Die meisten Zeichnungen entstanden 1942, die beiden letzten Blätter wurden einige Zeit nach der Flucht Teofila und Marcel Reich-Ranickis aus dem Warschauer Ghetto am 3. Februar 1943 hinzugefügt. Die Mappe mit den Blättern konnten die Reich-Ranickis vor ihrer Flucht aus dem Ghetto herausschmuggeln und verstecken lassen. Das Historische Centrum Hagen zeigt in Kooperation mit dem Jüdischen Museum in Frankfurt diese Ausstellung erstmalig in Nordrhein-Westfalen.
"Schöne Dinge bedeuten Ordnung und Ruhe in einer ansonsten barbarischen Welt."
Dies sagt eine Frau, die das Schlimmste erlebt hat, was Menschen erleben können - die gnadenlose Verfolgung durch die eigenen Artgenossen im Warschauer Ghetto. Nur weil sie einer anderen Religion, einer anderen Rasse zugehörig waren, wurden sie und ihr Mann Marcel Reich-Ranicki von besessenen Fanatikern als lebensunwert bezeichnet. Wer solch unheilvolles Chaos erlebt hat, weiß um die Kraft heilender Ordnung. Schönheit bedeutet Harmonie und Harmonie entsteht, wenn alle Dinge im rechten Verhältnis zueinander stehen. Teofila Reich-Ranicki liebt schöne Dinge in jeder Form, ist stets gepflegt und perfekt gekleidet. Die Präzision im Äußeren hat jedoch nichts Gekünsteltes oder gar Engstirniges an sich. Es ist vielmehr das Credo einer Frau, die sich den Glauben an das Schöne, Gute und Wahre trotz allen erlebten Grauens bewahren konnte. Alle Achtung, Frau Reich-Ranicki!
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein -
er lebt von der Schönheit und Harmonie, von der Wahrheit und Güte, von der Sehnsucht und von der Erfüllung.
Er lebt von der Stille einer Kirche, vom sanften Druck einer Hand, vom Flüstern der Winde, vom Duft der Blumen, vom Rauschen des Wassers, von der Majestät der Berge.
Er lebt vom Wagnis der Entdecker, von der Weisheit der Denker, von den Werken der Dichter, von den Farben der Maler, von den Kompositionen der Musiker.
Würde und Schönheit des Handelnsvon Dr. Sergej Karinski
Schönheit hängt sprachlich mit Schauen zusammen. Schönheit wird auch als das sinnliche Erscheinen der Idee bezeichnet. Das Schöne gibt die Richtung vor und zieht an. Es ist für alle Menschen attraktiv. Alle Menschen richten sich danach aus. Das Schöne, Gute und Wahre sind vielfach gleichgesetzt worden. Das geordnete Schöne tritt gegen das Chaos des Hässlichen an und besiegt es, da es die tieferen Wurzeln hat. Alles strebt zum Schönen hin. Schönheit kann somit als mächtige Zielgröße menschlichen Handelns angesehen werden, die trotz aller Widrigkeiten des Lebens bestehen bleibt.
"Würde und Schönheit des Handelns
ist sowohl in meinem privaten als auch im beruflichen Leben äußerst wichtig."
Kleidung als Podest zum Geistvon Modemacher Wolfgang Joop
"Als Modemacher kümmern wir uns um die Verpackung der Seele. Man muss nicht Pastell tragen, wenn einem nach Schwarz zumute ist. Wir wollen keine aufgesetzte Fröhlichkeit, sondern Struktur und Haltung. Kleidung sollte als Podest zum Geist geformt sein. Erst uni-form, also die gleiche Form, hebt den Sex und den Individualismus."