Der Unterschied zwischen Burn-out und Depression

Das Burn-out könnte man als die gesellschaftlich akzeptierte Edel-Variante der Depression und Verzweiflung sehen, die auch im Moment des Scheiterns das Selbstbild unangetastet lässt. Nur Verlierer werden depressiv, Burn-out dagegen ist eine Diagnose für Gewinner, genauer gesagt für ehemalige Gewinner.

"Welt Kompakt" Sonntag,15. Februar 2009 von Pia Heinemann

Als Henry Gustav Molaison zum ersten Mal Golf spielte, dachte er wahrscheinlich: Danke Gott, ich bin ein Naturtalent. Er dachte vielleicht: Ich bin noch jung, vielleicht kann ich was daraus machen. Ich hab's im Blut, ich weiß, wie man den Schläger hält, ich weiß, wie man ihn schwingt.
Er wusste nicht, dass er in Wirklichkeit schon weit über 60 war und auch nicht, dass er schon hundert Mal Golf gespielt hatte. Er wusste nicht, dass er schon lange nicht mehr Henry Gustav Molaison war, sondern Patient H.M. Eine wissenschaftliche Kuriosität. Der Mann, der alles, was die Forschung zuvor über das menschliche Gedächtnis wusste, auf den Kopf stellte. Der Mensch, an dem man erstmals erklären konnte, warum man vergisst, was man vor zehn Jahren zum Frühstück hatte, aber nicht, wie man schwimmt, oder Golf spielt.
Henry Gustav Molaison war neun Jahre alt, als er Patient H.M. wurde. Er wurde von einem Fahrradfahrer angefahren und schlug mit seinem Kopf auf den Boden. Zunächst sah es so aus, als sei nichts Schlimmes passiert. Doch bereits ein Jahr später erlitt er seinen ersten schwachen epileptischen Anfall, er wurde kurz ohnmächtig. Mit 16 Jahren krampfte er stark, er fiel hin, seine Arme und Beine zuckten, verlor das Bewusstsein. Und mit jedem Jahr wurde es schlimmer.
Ob der Unfall die Epilepsie auslöste oder ob er erbte - drei seiner Cousins waren Epileptiker - ist bis heute unklar. Klar ist, dass er mit 27 Jahren so krank war, dass er seine Arbeit am Fließband in einer Motorenwerkstatt nicht mehr schaffte. Täglich krampfte er bis zu zehnmal leicht, ein bis zweimal in der Woche schwer. Er suchte Rat im Krankenhaus von Hartford, Connecticut, doch es gab nichts, was ihm helfen konnte. Kein Medikament, kein bislang bekannter Eingriff. Der Chirurg William Scoville operierte ihn dennoch am 23. August 1953. Er war ein Experiment. Scoville entfernte an beiden Großhirnhälften zwei fingergroße Areale, die mittleren Schläfenlappen. Eine nie zuvor durchgeführte Prozedur, ein erster Test, von dem niemand wusste, ob Molaison ihn überhaupt überleben könnte. Und vor allem wie.
Molaison krampfte nie wieder. Und dennoch wiederholte William Scoville die Operation nicht ein einziges Mal. Denn nicht nur die Krämpfe blieben aus, sondern auch Molaisons Erinnerungsvermögen. Er wurde zum Patienten "H.M." Er konnte sich nur noch an Dinge erinnern, die er vor der Operation erlebt hatte. Alles was er nach dem Eingriff erfuhr, fühlte, sah, vergaß er umgehend. Sein Körper wurde 82 Jahre alt. Seine Psyche und seine Persönlichkeit blieben die eines Mittzwanzigers.
Dass Patient H.M. nicht einfach vor sich hinlebte in seiner eigenen Welt, ohne Erinnerung, dass sein Leben einen Sinn bekam, liegt im Wesentlichen an der Psychologin Brenda Milner. Sie kannte Henry Gustav Molaisons Hirnchirurg Scoville, und er erzählte ihr von Patient H.M. Milner reiste vom kanadischen Montreal nach Hartford und untersuchte ihn. Immer wieder ließ sie ihn Gedächtnistests machen, immer wieder wollte sie wissen, an was er sich erinnert und an was nicht.
Vor dem Fall H. M. wusste man nicht, wie das Gedächtnis im Hirn organisiert ist. Forscher dachten, es gäbe im Gehirn keine Gedächtniszentren. Die Erinnerung werde vielmehr überall, in einem mehr oder minder komplex gestrickten Netzwerk von Nervenzellen gespeichert. Ein Netz, das unser Wissen über uns Selbst, über unsere Umgebung und über den Lauf der Zeit speichert.
Patient H.M. bewies das Gegenteil. 1962 ließ Milner ihn Sterne malen. Ein Standard-Test, der das motorische Gedächtnis prüft. Milner gab ihm ein Papier, auf das ein Stern mit doppeltem Rand vorgezeichnet war. Der Patient musste dann eine Linie in der Mitte des Doppelrandes zeichnen und so die Sternform nachziehen - allerdings durfte er dabei nicht direkt auf das Blatt Papier sehen. Nur über einen Spiegel sah er Stift, Stern und seine Hand. Wer dies selbst ausprobiert, wird bei den ersten Versuchen Schwierigkeiten haben. So auch Patient H. M. Doch die Psychologin ließ ihn immer und immer wieder Spiegel-Sterne zeichnen - und er wurde, wie jeder andere, von Mal zu Mal besser. Patient H. M. erinnerte sich in der nächsten Sitzung zwar nie daran, dass er schon einmal einen Stern malen sollte. Aber offenbar arbeitete sein motorisches Gedächtnis völlig normal. Milner erinnert sich, dass Patient H. M., nachdem er schon zahlreiche Sterne nachgezeichnet hatte, einmal ausrief "Huh, das geht ja leichter, als ich gedacht hatte."
Seither weiß man: Im Gehirn existieren mehrere Gedächtnissysteme. Eines, das als Wissens-Gedächtnis bekannt ist: Hiermit lernen wir Namen und Gesichter und können sie uns beim Wiedersehen bewusst in Erinnerung rufen. Die hierfür zuständige Hirnregion ist der Hippocampus - ein Gebiet, das der Chirurg bei der Operation von H. M. verletzt hatte.
Das zweite Gedächtnissystem ist das motorische Gedächtnis. Es erklärt, warum wir auch nach unsportlichen Jahren weder Radfahren noch Schwimmen verlernen. Dieses unbewusste motorische Gedächtnis war bei H. M. intakt.
Und auch ein drittes Gedächtnis funktionierte noch immer: das Kurzzeitgedächtnis. Erklärte man ihm ein ihm unbekanntes Wort, beispielsweise "Mobiltelefon", so konnte sich zunächst erinnern und es wiederholen. Der Transfer dieses Wortes ins Langzeitgedächtnis war allerdings gestört. Zwei Stunden später war ihm ein "Mobiltelefon" bereits wieder völlig unbekannt. Auch mit Melodien tat H. M. sich schwer: Hörte er sie, konnte er sie nachsummen. Doch am nächsten Tag erinnerte er sich an nichts.
Es ist schwer sich vorzustellen, wie sich Patient H.M. fühlte, wie es ist, sich am Abend nicht an den Morgen erinnern zu können. "Es ist immer so, als sei ich eben erst aus einem Traum erwacht", sagte Molaison einmal auf diese Frage. Er war sich nie sicher, wo er gerade war und was er dort sollte, wie er dorthin gekommen war. Minuten, Stunden, Jahre verschwanden einfach. "Wenn man ihn fragte, wie er aussieht, dann beschrieb er sich stets mit schwarzen Locken - obwohl er in Wirklichkeit längst grau geworden war", sagt sich David Amaral, Forschungsdirektor des Mind Instituts der Universität von Kalifornien (UC) in Davis, einer von vielen Wissenschaftler, die Patient H.M. immer wieder besuchten, untersuchten, befragten, im Haus seiner Eltern, wo er nach der Operation lebte.
Nach dem Tod des Vaters zog seine Mutter mit ihm und einer nahen Verwandten in ein neues Haus. Er half beim Einkaufen, mähte den Rasen, rechte Laub und entspannte sich vor dem Fernseher. Feste Rituale wie Bettenmachen oder Mittagessen, die Erinnerung an das, was er vor seiner Operation erlernt hatte, halfen ihm über den Tag.
Doch alles Neue blieb schwer. Er fand keine Arbeit, keine Frau. Es machte ihn nicht traurig, denn er wusste nichts davon. "Ich fragte ihn mal 'Woran versuchen Sie sich gerade zu erinnern?'", sagt Suzanne Corkin, Hirnforscherin am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge. "Er antwortete lachend 'Nun, ich weiß es nicht, weil ich mich nicht daran erinnere, dass ich mich überhaupt an etwas erinnern wollte.'"
Sie sagt, es sei falsch zu glauben, dass Patient H.M. keine Persönlichkeit aufbauen konnte. Sie sagt, er hatte alles, was einen Menschen ausmacht: Ziele, Träume, Wünsche, Werte. Sie sagt: "Als ich ihn einmal nach seinem Operateur, dem Neurochirurgen Dr. Scoville, fragte, antwortet er mir 'Er betreibt medizinische Forschung an Menschen - an allen möglichen Menschen. Was er von meinem Fall gelernt hat, das wird anderen Menschen helfen, und darüber bin ich sehr froh!'".
Sie sagt, er war ein Gentleman.
Sie sagt, er habe ein Gewissen, denn als sie ihn fragte, was ihn daran hindere, Neurochirurg zu werden, sagte er, dass er nun einmal Brillenträger sei. Und wenn bei einer Hirnoperation Blut auf seine Brille spritzen würde, könnte er möglicherweise nicht mehr richtig sehen. Dann könnte er dem Patienten einen nicht wieder gutzumachenden Schaden zufügen.
Sie sagt, er war sehr bescheiden. Als Corkin mit einem neuen Wissenschaftler zu ihm kam und dieser betonte, wie hochinteressant der Fall doch sei, wurde er rot. Er sei doch gar nicht so spannend, habe er geantwortet.
Patient H.M. beschrieb seine Lage einmal so: "Jeder Tag ist ein neuer, was auch immer ich für Freuden, was auch immer für Sorgen ich zuvor hatte".
Irgendwie drangen manche Dinge trotzdem zu ihm vor. In den ersten Jahren nach dem Umzug gab er stets die Adresse seiner alten Wohnung an. Doch als ihn Corkin bat, einmal einen Grundriss seiner Wohnung aufzumalen, zeichnete er erstaunlicherweise die Zimmer der neuen Wohnung exakt auf. Molaison vergaß weder Wohnzimmer noch Bad, wusste welches Zimmer wie groß war und wie die Räume zueinander angeordnet waren. "Wir können das nur so erklären, dass er durch das tag-tägliche Begehen der Wohnung unbewusst ein motorisches Gedächtnis für die Zimmer aufgebaut hat", sagt Corkin.
Auch wenn man glaube, man könne zu einem Menschen, der sich nach einer Stunde schon nicht mehr an einen erinnern kann, keine Beziehung aufbauen - die Forscherin meint, bei Patient H.M. habe es geklappt. Menschen, die er häufig sah, erkannte er irgendwann auch wieder. Doch er dachte, er hätte sie auf der Highschool vor seiner Operation kennen gelernt.
Henry Gustav Molaison, der berühmteste Amnesiepatient der Welt starb am 2. Dezember 2008 in einem Altersheim in Connecticut. Sein Gehirn wurde entfernt und zum Hirnforschungszentrum des UC in San Diego geschickt. Es wird in Scheiben geschnitten werden, auf Glasplatten fixiert, gefärbt und gescannt werden. Hirnanatomen werden einen genauen Atlas seines Gehirns anfertigen. Die Bilder werden weltweit zur Verfügung stehen. Über das Internet wird sich jeder ähnlich wie bei "Google-Earth" in das Gehirn Henry Gustav Molaisons zoomen können.
Was man dort nicht sehen kann: Alle Wissenschaftler, jeder, der mit ihm sprach, ihn scannte, testete, untersuchte, beschrieben ihn als angenehmen Mann, der mit unerschütterlicher Ruhe alle Tests und Befragungen erduldete. Nett sei er gewesen, nie bösartig, immer optimistisch. Einige sagen, dass er für sie zur Familie gehörte. Auch wenn er nicht wusste, wer sie sind.

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